CDU, CSU und SPD haben in dieser Woche ihren Koalitionsvertrag für die aktuelle, 21. Legislaturperiode veröffentlicht. Wie bereits im Vorfeld erwartet und kritisiert, findet sich darin auch folgender Satz: “Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt” (Rn. 3926 ff.). Eingebettet ist dieser Satz in Vorschläge und Forderungen zur Bekämpfung von Desinformationen, Fake News, Informationsmanipulationen und “Hass und Hetze” (Rn. 3932).
Doch welchem Zweck soll dieser Satz an dieser Stelle dienen? Soll dadurch gar der Eindruck erweckt werden, dass unser Grundgesetz die bewusste Lüge nicht schützt, und dadurch der Staat hiergegen aggressiv vorgehen müsse?
Es ist zunächst richtig, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in ständiger Rechtsprechung betont, dass die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG die bewusste Behauptung unwahrer Tatsachen nicht schütze (vgl. z.B. Beschl. v. 22.06.1982, Az.: 1 BvR 1376/79; Beschl. v. 10.11.1998, Az.: 1 BvR 1531/96), da eine solche vorsätzliche Lüge nichts zur Meinungsbildung beitragen könne.
Doch endet damit die Prüfung? Diese Frage ist klar zu verneinen, denn das Grundgesetz schützt anderweitig auch die bewusste Lüge – und zwar über das allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. die sog. Handlungsfreiheit: “Art. 2 Abs. 1 GG schützt jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt” (BVerfG, Beschl. v. 05.08.2020, Az.: 2 BvR 1985/19, 2 BvR 1986/19). Das sollte in einer freiheitlichen Demokratie auch selbstverständlich sein – sind doch unzählige bewusste Lügen denkbar, die (v.a. mangels Drittbezug) völlig harmlos, manchmal hilfreich oder bestenfalls spinnert daherkommen. Insofern denke man etwa nur an Fragen wie “Hat es Ihnen geschmeckt?”, “Passt mir diese Hose noch?”, “Wie gefällt dir meine neue Frisur?” oder etwa “Liebst du mich noch?” und die zwischenmenschlich etwaig drohenden Folgen möglicher ehrlicher Antworten.
Aber auch rechtlich relevante Angaben dürfen mitunter bewusst falsch getätigt werden. So dürfen etwa im Bewerbungsgespräch sog. unzulässige Fragen bewusst wahrheitswidrig beantwortet werden – das Bundesarbeitsgericht spricht hier von Fällen “rechtmäßiger Täuschung” (Urt. v. 21.02.1991, Az.: 2 AZR 449/90); die Literatur sogar von “erlaubten Lügen” (HK-BGB/Dörner, 12. Aufl. 2023, § 123 Rn. 4). Und selbst Gesetze erlauben das vorsätzliche Lügen: Nach § 53 BZRG dürfen sich Verurteilte kraft gesetzlicher Erlaubnis als unbestraft bezeichnen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes schützt also tatsächlich keine bewussten Lügen – andere Grundrechte hingegen schon. Und auch die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK soll übrigens Tatsachenbehauptungen “ohne Einschränkung…, und zwar auch dann, wenn es sich um unrichtige Behauptungen handelt“, schützen (so Grabenwarter/Pabel, EMRK, 7. Aufl. 2021, § 23 Rn. 5; vgl. aber auch HK-EMRK/Daiber, 5. Aufl. 2023, EMRK, Art. 10 Rn. 14). Man kann daher nur hoffen, dass CDU, CSU und SPD ihren offenbar beabsichtigten staatlichen Kreuzzug gegen Fake News und Co. nicht selbst auf falsche Informationen stützen werden.